dailyvictim

Donnerstag, 13. November 2003
Hallo Madame
Ja Sie meine ich, ja genau Sie, erinnern Sie sich doch gefälligst an jenen lauen Sommernachmittag, um genau zu sein es ist 18.45 Uhr. Sie saßen da zusammen mit einer Bekannten als wäre die Welt im Lot und machen einem jungen Mann das Dasein zur Hölle. Sie mit Ihren 45 Jahren, Ihrem eleganten Kleid, Ihre aristokratische Art. Eben noch stieg ich völlig unbefangen in die Berliner U2 Richtung Richtung Alexanderplatz. Gut, ohne einen gültiger Fahrschein, aber das kann mich nicht aus der Ruhe bringen, schließlich fahre ich seit einem Jahr ungescholten schwarz. Nein, drehen Sie sich nicht weg, ich konnte mich schließlich auch nicht abwenden als ich Sie erblickte. Beim Einsteigen noch fuehlte ich mich wie der Hecht im Karpfenteich – immer erfreut über ein attraktiven Gegenüber. Ich bevorzuge attraktive Frauen als Mitfahrerinnen. Nein – nicht das ich sie anstarren oder gar kennenlernen woellte, dazu bin ich viel zu schüchtern. Eine interessante Mitfahrerin ist nun mal ästhetisch, basta. Im Normalfall betrachte ich die Dame dann von Zeit zu Zeit und wiege mich in dem Traum. Heute bin ich auf dem Weg zu einem guten Freund in den nahegelegnen Friedrichshain. Am Alexanderplatz will ich umsteigen in die ratternde U5. Dann noch ein paar Stationen in das nahegelegene Friedrichshain, wo der Abend mit Freundenbei eins zwei blumigen Cocktails ausklingen soll.
Aber da sind Sie und nehmen mir alle guten Vorsaetze. Da sitzen Sie, ein Bein ueberschlagen, Ihr Sommerkleid endet knapp ueber dem Knie, Ihre Struempfe bedecken Ihre Haut nur hauchfein. Ich wage einen Blick auf Ihre Schuhe, mein Atem steht. Derartige Schuhe traegt niemand am Prenzlauer Berg, diese Schuhe gehoeren nach Paris oder vielleicht noch nach Charlottenburg. Direkt schaeme ich mich, starre zur Seite, mein Blick klebt am Fenster neben Ihnen. Oh mein Gott, es zieht und zerrt, juchzend woellte ich einen Zentner Kohlen in die vierte Etage tragen. Doch kein Ausweg, es ist Sommer – mir gegenueber sitzt die Leidenschaft in Person. Ich kann es nicht laenger ertragen, sicher habe ich lang genug nicht gestarrt – ich riskiere einen neuen Blick. Sie stecken im Gespraech – sind Ihrer Bekannten zugewandt. Mutig streift mein Blick von Ihren Knien an Ihren Beinen empor. Das Kleid ist der Jahreszeit angemessen sehr duenn. Mein Blick streift Ihre Schenkel – Haetten sie mir nicht wenigstens dies ersparen koennen – haetten Sie auf dieses Detail weiblichen Reizes verzichten koennen – Durch den Stoff praegt sich Ihr Strumpfhalter ab. Mein Magen verliert jede Fasson, ich verliere jeden Halt. Ich presse meinen Blick wieder an die Fensterscheibe. Wo kommt diese Frau her, wo will sie hin? Ich versuche Sie mir als Leiterin einer Kulturkommision vorzustellen, welch ein Glueck muss es sein, Ihnen im Gespraech in die Augen sehen zu duerfen. Wie werden sie wohl Ihre lederne Aktentasche auf dem Tisch platzieren. Wie ein Sirene des Odysseus ziehen sie meinen Blick an, ich kaempfe wie ein Loewe, starre geradeaus. Mein Zeitgefuehl ist dahin, ich darf Sie nicht schon wieder anstarren. In meiner Verlorenheit beginne ich zu zaehlen – eins, zwei, drei, vier, fuenf, sechs, sieben, acht, neun - ich weiss jede Zahl entspricht etwa einer Sekunde – zehn, elf, zwoelf ... achtundfuenfzig, neunundfuenfzig, sechzig.
Ich bin mir sicher – eine volle Minute, vielleicht mehr hat mein Blick standgehalten. Ich Trottel, sitze gegenueber einer Goettin und starre glasig ins Glas.
Die Lautsprecherstimme meldet – U-Bahnhof Alexanderplatz. Das ist meine Station, ich lasse meinen Blick moeglichst belanglos ueber die Gespraechspartnerinnen schweifen. Da tut sich nichts, die Damen plauschen weiter. Was soll ich tun, aussteigen als sei nichts gewesen, sitzen bleiben wie einperverser Spanner. Kurzum - ich blieb sitzen. Die Bahn leerte und fuellte sich wieder, vor die Scheibe setzte sich ein in den 80igern haengengebliebener Oekomensch, der sicherlich nach Kreuzberg reiste.

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